Eine Verteidigung des mathematischen Platonismus ohne metaphysische Voraussetzungen
Einleitung
Für den mathematischen Platonismus bilden mathematischen Gebäude eine immaterielle, unveränderliche und ewige Welt, die unabhängig vom menschlichen Denken existiert. Der mathematischen Platonismus ist eine metaphysische Theorie. Dennoch beabsichtigt dieser Artikel, den mathematischen Platonismus ohne metaphysische Argumentation zu verteidigen. Trotz des ersten Eindrucks, den man in diesem Zusammenhang gewinnen könnte, gibt es da keinerlei Widerspruch.
Laut Definition ist eine metaphysische Theorie weder beweisbar noch widerlegbar. Demzufolge ist jegliche Verneinung der betreffenden metaphysischen Theorie auch wieder eine metaphysische Theorie. Unter diesen Umständen ist es selbstverständlich sinnlos, konkurrierende metaphysische Theorien auf ihre „Richtigkeit“ bzw. „Falschheit“ zu untersuchen. Dagegen scheint es absolut plausibel, konkurrierende metaphysische Theorien in Bezug auf rein wissenschaftstheoretische, absolut Metaphysik-freie Kriterien zu vergleichen, Kriterien wie die Ökonomie der benötigten Voraussetzungen, die Glaubwürdigkeit dieser Voraussetzungen, die eventuelle Notwendigkeit oder nicht-Notwendigkeit von ad hoc-Hypothesen, die innere Konsistenz der jeweiligen Theorien und vor allem deren Konsequenzen, wenn man Letztere genügend weit entwickelt.
Der vorliegende Artikel versucht, auf diese Weise zu zeigen, dass die Verneinungen des mathematischen Platonismus, die jegliche Formen mathematischer Gebäude als „Menschenwerk“ auffassen, einerseits von vornherein fragliche Voraussetzungen erfordern und anderseits zu unhaltbaren Konsequenzen führen, während sich der mathematische Platonismus gerade aus der Perspektive der Metaphysik-freien Kriterien ohne untragbare Voraussetzungen auskommt und keinerlei unhaltbare Konsequenzen mit sich bringt.
1. Hintergründe
In erster Annäherung geht aus den beiden Gödelschen Unvollständigkeitssätzen in der Reihenfolge hervor, dass (i) ein widerspruchsfreies mathematisches Gebäude mit der Mächtigkeit der Arithmetik bzw. darüber unbeweisbare Aussagen beinhalten kann, und dass (ii) ein mathematisches Gebäude mit der Mächtigkeit der Arithmetik bzw. darüber nicht in der Lage ist, mit „eigenen Mitteln“ seine Widerspruchsfreiheit zu beweisen [1]. Die absolute Sicherung eines mathematischen Gebäudes erfordert also, dass Letzteres in ein breiteres Gebäude eingebettet ist, und so weiter bis ins Unendliche. Im Gegensatz zu dem, was ein voreingenommener Blick vermuten lassen könnte, betrachtet Gödel seine Unvollständigkeitssätze als solide Untermauerung der platonischen These. Vereinfacht ausgedrückt, kann die zur Sicherung eines mathematischen Gebäudes benötigte Einbettung nicht durch ein „beliebiges“ Gebäude geschehen. Im Gegenteil muss das einbettendeGebäude E' so beschaffen sein, dass das einzubettende Gebäude E als Teil-Gebäude von E'hervorgeht, wobei E im Rahmen seiner eigenen Grenzen notwendigerweise den logischen Aufbau von E' teilt. Da nun die objektiv bestehende Forderung der Einbettung von E in E', aber auch von E' in E'' und so weiter ins Unendliche geht, bleibt laut Gödel [2] die platonische Auffassung der Mathematik die einzig haltbare, während jeglicher irgendwie auf der Idee der Mathematik als Menschenwerk beruhende Ansatz sich als unhaltbar erweist.
Aus einer anscheinend anderen Perspektive – jedoch werden sich das hier oben Erwähnte und das jetzt Folgende in diesem Artikel zusammenfinden – müssen wir auf ein großes Missverständnis im Bezug auf Hilberts sogenannten „Formalismus“ eingehen.
Ein fest verwurzelter Gemeinplatz behauptet, dass „nach Hilberts Auffassung“ jedes mathematische Gebäude aus „bedeutungslosen, nach willkürlichen Regeln zusammengesetzten Zeichen“ bestehen würde. Jenseits dieser karikierten Vision (vgl. [3]) nimmt Hilberts Projekt eine ganz andere Wendung. Hilbert geht die Grundlagen der Mathematik so an, als ob alle mathematischen Gebäude aus willkürlich zusammengesetzten, bedeutungslosen Zeichen bestünden [3]. Die Rekonstruktion der mathematischen Gebäude, als ob sie „willkürliche“ Systeme wären, verleiht laut Hilbert der Mathematik solidere Grundlagen, insbesondere in Hinblick auf den Beweisprozess [4][5][3]. Diese Rekonstruktion erfordert in der Tat die Formalisierung gegebener mathematischer Gebäude durch – zumindest theoretisch – willkürliche formale Systeme. Nun, abgesehen davon, dass infolge der Gödelschen Unvollständigkeitssätze Hilberts Projekt aufgegeben werden musste, geht aus der Struktur der besagten, an sich unmöglichen Rekonstruktion ein formeller Tatbestand hervor, der für eine Verteidigung des mathematischen Platonismus ohne metaphysische Argumentation von höchster Bedeutung ist. Verknüpft mit Gödels Ansicht über die Untermauerung der platonischen Hypothese, wird dieser im Absatz 2 behandelte Punkt zeigen, dass die Konsistenz jeglicher Ablehnung des mathematischen Platonismus ausgesprochen fragliche Voraussetzungen erfordert. Dem kann dann später gegenübergestellt werden, dass die Bejahung des mathematischen Platonismus nicht mehr und nicht weniger metaphysische Voraussetzungen erfordert als die wissenschaftliche Behandlung der materiellen Realität, während der mathematische Platonismus sich ansonsten entscheidend weniger problematisch erweist als seine Verneinungen.
2. Jenseits des Missverständnisses in Bezug auf Hilberts „Formalismus“
Um weiterzukommen, müssen wir uns mit dem Begriff eines „formalen Systems“ beschäftigen, d.h. genauer gesagt, mit der Art und Weise in der Hilbert diesen Begriff im Rahmen seines Ansatzes einer Rekonstruktion der Mathematik versteht. Aus Hilberts Sicht handelt es bei einem formalen System in der Tat um ein von Menschen geschaffenes Gebilde mit willkürlichen Eigenschaften, deren Willkürlichkeit allerdings auch scharfe Grenzen gesetzt sind. Es sei von vornherein gesagt, dass Hilbert mathematische Gebäude als solche keineswegs als formale Systeme betrachtet.
Ein formales System stricto sensu Sy besteht aus (i) einem Alphabet A aus willkürlichen Zeichen σh, (ii) einer Menge Rm von willkürlichen Regeln, die die korrekte Bildung von „Wörtern“ mi aus zu A gehörenden Zeichen regeln, (iii) einer Menge Rd von willkürlichen Regeln, die die korrekte Ableitung eines Wortes mj aus einem anderen Wort mi festlegen, i ≠ j, und (iv) einer willkürlichen Menge Ax von Axiomen Axk, d.h. korrekt zusammengesetzten und irreduziblen Wörtern, die jedoch den folgenden Bedingungen unterliegen: Diese Axk dürfen (i) nicht zu Inkonsistenzen hinsichtlich ihrer Konsequenzen führen und müssen (ii) das gesamte System Sy abdecken. Ein korrekt geschriebenes Wort mu, das zu einer Kette von korrekten Ableitungen gehört, die auf die Axiome von Axzurückgehen, wird als „Satz“ oder „Theorem“ θv von Sy bezeichnet [5][6].
Aufgrund des hier oben Angeführten können wir jetzt auf die Beziehungen – aus hilbertscher Sicht – zwischen formalen Systemen Sy und mathematischen Gebäuden E eingehen.
Betrachten wir ein provisorisch als irgendwie gegeben aufgefasstes mathematisches Gebäude E, dessen Theoreme θw – allerdings aufgrund eines Beweisprozesses, der sicherlich nicht die formale Strenge der „mechanischen“ Deduktion eines zu Sygehörenden Theorems θv erreicht – als „wahr“ angesehen werden. Dieses mathematische Gebäude E gilt als durch das formale System Sy „formalisiert“ , wenn und nur wenn es möglich ist, eine umkehrbar eindeutige Beziehung oder „Bijektion“ zwischen jedem Theorem θv von Sy und jedem Theorem θw von E herzustellen. Notieren wir diese Bijektion „E ← Φ → Sy.“ Wenn (!) die Formalisierung von E durch Sy via Φ existiert – aber wir wissen seit den Gödelschen Unvollständigkeitssätzen, dass das im Allgemeinen nicht der Fall ist – dann (!) teilt E die Konsistenz von Sy.
Was ist nun die Natur von E? Innerhalb von E ← Φ → Sy wird ein Gebäude Esystematisch als „gegeben“ betrachtet, ja, aber wie gegeben? Ist es auch nur ein formales System, schon vor dem System Sy konstruiert – also auch ein von Menschen gemachtes System – in dem jedes Zeichen σg aus dem Alphabet A des „gegebenen“ Gebäudes Eeinem und nur einem Zeichen σh des Alphabets A von Sy entspricht, während zwischen den Rm, Rd und Ax von Sy und den Rm, Rd und Ax von E eine funktionale Identität besteht? Nun, genau betrachtet, hat diese Frage keinen Sinn, da es in diesem Fall ja überhaupt nicht um eine Formalisierung ginge, sondern um eine formale Äquivalenz E ← Ψ → Sy, die mit E ← Φ → Sy zwar die mathematische Form einer Bijektion teilt, aber nicht die Bedeutung von E ← Φ → Sy besitzt. In der Tat, wenn E mit seinen Bestandteilen A, Rm, Rd und Ax selbst ein formales System ist, bei dem sich die Zeichen σg aus dem Alphabet A von E nur rein graphisch von den σh des Alphabets A von Sy unterscheiden, während Rm, Rd und Ax respektiv mit Rm, Rd und Ax funktional identisch sind, dann möge das Ganze vielleicht zu irgendwas gut sein, aber um eine Formalisierung wie weiter oben definiert handelt es sich nicht.
Wenn wir innerhalb von E ← Ψ → Sy das Gebäude E weiterhin sowohl als gegeben als auch als Menschenwerk betrachten wollen, dann müssen wir anstelle von E mit seinen Bestandteilen A, Rm, Rd und Ax, also anstelle von E als formalem System eine im Vergleich zu Letzterem „verdünnte“ Version eines „Menschenwerk“ E finden. Nun, wir könnten vielleicht davon ausgehen, dass die mathematisierende Menschheit, jahrhunderte- oder jahrtausendelang an seinen Gebäuden E „herum bastelnd “, dabei aus deren Widersprüchen und sonstigen Unzulänglichkeiten gelernt hat, und dass auf diese Weise die besagten Gebäude E mehr und mehr zu mathematischen Gebäuden wurden. Oder, da der konstruktivistische bzw. intuitionistische Ansatz sich ja außerhalb der platonisch-antiplatonischen Debatte situiert, können wir auch die Idee einer menschlich bedingten Existenz der mathematischen Gebäude E konstruktivistisch bzw. intuitionistisch begründen (siehe Abschnitte 3.3 und 4.1). Das alles klingt eher fraglich bis unsolide. Jedoch, wenn wir die Bijektion E ← Φ → Sy nicht auf eine nichts bringende formale Äquivalenz E ← Ψ→ Sy herabwürdigen wollen, müssen wir uns mit einem offen gesagt vagen Ansatz begnügen.
Auf dieser Basis bzw. unter diesem Vorbehalt, nennen wir „Menschenwerkswahl “ die Auffassung, dass mathematische Gebäude E nicht auf formale Systeme Sy reduzierbare Menschenwerke sind, und „platonische Wahl“ die andere Auffassung, die behauptet, dass E einer objektiven Realität angehört. Unterstreichen wir den Terminus „Wahl“.
Um Missverständnisse zu vermeiden, sei wiederholt, dass beide Wahlen, die platonische und die „menschenwerkliche“, metaphysische Optionen sind. Absolut gesehen kann die Frage – für Barry Mazur die Frage schlechthin, „The Question“ [7] –, ob die „menschenwerkliche“ oder die platonistische Wahl der Wahrheit entspricht – nicht endgültig beantwortet werden. Aber wir können nun die beiden Optionen unter dem Kriterium ihrer jeweiligen epistemologischen Konsistenz vergleichen. Hierbei, wie wir es sehen werden, beinhaltet in dieser Hinsicht der Hilbertsche Als-ob-Ansatz ein wirkungsvolles Werkzeug.
3. Platonismus und Antiplatonismus im Lichte des Hilbertschen Ansatzes
3.1 Die formalen Grundlagen des Hilbertschen als ob-Ansatzes als Ausgangspunkt
Versuchen wir also, ein mathematisches Gebäude E anhand der Bijektion E ← Φ → Sy sowohl vollständig als auch widerspruchsfrei zu formalisieren. Hierbei stellt sich allerdings schon die Frage, ob dieses Projekt überhaupt mit der effektiven Konstruktion von formalen Systemen Sy vereinbar ist, wenn diese wirklich nur willkürlich geregelten Ansammlungen von willkürlichen, bedeutungslosen Zeichen sind. Selbst bevor wir auf die Folgen der Gödelschen Sätze eingehen, scheint das bereits sehr fraglich. Indem Hilbert seine „als ob“-Strategie anwendet, d.h. so tut, als ob er willkürliche Sy zur Formalisierung von Everwendet, implementiert er in Wirklichkeit Systeme, die anfänglich aus Zeichen der Logik erster Ordnung bestehen, die von den entsprechenden Rm, Rd und Ax geregelt werden. Diesen Zeichen der Logik erster Ordnung fügt Hilbert allerdings spezifische Zeichen hinzu, die intrinsisch von dem zu formalisierenden Gebäude E abhängen [5][6]. Dies scheint dafür zu sprechen, dass Sy, global gesehen, nicht willkürlich ist, sondern sogestaltet werden muss, dass es den Anforderungen der Formalisierung des gegebenen Eentspricht. Allerdings handelt es bisher nur um einen Eindruck, der zu untermauern bleibt. Im kommenden Absatz 3.2 werden wir sehen, dass diese Untermauerung sich auf die Begriffe „Extension“ und „Intension“ stützt.
3.2 Intension und Extension
Die aristotelische Logik vermittelt uns einen ersten, intuitiven Einblick in die Zusammenhänge zwischen der beabsichtigten Formalisierung von E durch Sy und den Begriffen Extension und Intension. Aus der Sicht der aristotelischen Logik – in modernisierter Schreibweise – besteht die Extension eines Begriffs κi aus der Menge der Begriffe κj, auf die κi „zutrifft“. Die Intension eines Begriffs κj ist die Menge aller Begriffe κi, die κj „einschließt.“ Außer wir sähen in einer Formalisierung E ← Φ → Sy absolut willkürliche Zuordnungen vom Nächstbesten zum Nächstbesten – aber das wäre kaum kompatibel mit der Struktur eines formalen Systems Sy wie sie in Abschnitt 2 dargestellt ist – erkennen wir spontan, dass sowohl die Menge der Begriffe κj, auf die κi „zutrifft“, als auch die Menge aller Begriffe κi, die κj „einschließt“ bei jeder bezeichnenden Formalisierung E ← Φ → Sy eine grundlegende Rolle spielen muss. Allerdings bleibt das Vorhergehende ziemlich vage und erfordert etwas Bemühung um größere Klarheit. Für Carnap ist die Intension eine Eigenschaft p, die alle zu einer Menge S gehörenden Elemente e bestimmt, und zwar nach dem Schema S = {e, e ⇒ p}, während die Extensioneben in dieser Menge S besteht [8]. Nun ist es allerdings notwendig, die Carnapsche Auffassung unserem Kontext gemäß zu spezifizieren.
Sei Pi ein Satz, der durch eine Menge p(Pi) von Eigenschaften eindeutig charakterisiert ist. Aufgrund dessen können wir die Extension E(Pi) von Pi als die Menge der Sätze Pjdefinieren, die durch eine Menge von Eigenschaften p(Pj) so charakterisiert sind, dassp(Pi) in p(Pj) enthalten ist. Als Formel: E(Pi) = {Pj, p(Pi) ⊆ p(Pj)}. Die Intension I(Pj) von Pj wird dann symmetrisch I(Pj ) = {Pi, p(Pi) ⊆ p(Pj)} geschrieben.
3.3 Eine bezeichnende Implikation
Interpretieren wir nun willkürlich die Menge aller Pi als die Menge der Sätze der Logik erster Ordnung L1°+, ergänzt durch spezifische Zeichen, die von dem zu formalisierenden mathematischen Gebäude E abhängen, und die Menge aller Pj als die Menge der Sätze von E. Ein Pi ∈ L1°+ kann auf ein Pj ∈ E angewendet werden, wenn und nur wenn Pj zur Extension E(Pi) von Pi gehört. Oder, wenn wir uns auf Pj ∈ E fokussieren, können wir auch sagen, dass die Verwendung von Pi zur Formalisierung von Pj voraussetzt, dass Pi zur Intension I(Pj) von Pj gehört. E(Pi) und I(Pj) schreiben sich in der Reihenfolge E(Pi) = {Pj, p(Pi) ⊆ p(Pj)} und I(Pj) = {Pi, p(Pi) ⊆ p(Pj)}. Holen wir nun bei den Ausdrücken {Pj, p(Pi) ⊆ p(Pj)} und {Pi, p(Pi) ⊆ p(Pj)} die jeweiligen impliziten Implikationen heraus, was in beiden Fällen p(Pj) ⇒ p(Pi) ergibt.
Führen wir jetzt die Umkehrung der hier oben-stehenden willkürlichen Interpretation aus. Dieses Mal interpretieren wir die Menge aller Pj als die Menge der Sätze der Logik erster Ordnung L1°+, ergänzt durch spezifische Zeichen, die von dem zu formalisierenden mathematischen Gebäude E abhängen, und die Menge aller Pi als die Menge als die Menge der Sätze von E. Unter diesen Umständen gilt: (i) Ein Pj ∈ L1°+ kann auf ein Pi ∈E angewendet werden, wenn und nur wenn Pi zur Extension E(Pj) von Pj gehört, und (ii) Die Verwendung von Pj zur Formalisierung von Pi setzt voraus, dass Pj zur Intension I(Pi) von Pi gehört. E(Pj) und I(Pi) schreiben sich jeweilig E(Pj) = {Pi, p(Pj) ⊆ p(Pi)} und I(Pi) = {Pj, p(Pj) ⊆ p(Pi)}. Wenn wir diesmal die impliziten Implikationen herausholen, dann ergibt das in beiden Fällen p(Pi) ⇒ p(Pj).
Wir könnten noch andere Interpretationen der Mengen aller Pi bzw. aller Pjbewerkstelligen, aber das würde dann nicht mehr der Formalisierung von E durch Syentsprechen. Verbleiben wir also bei den beiden hier oben behandelten Interpretationen, die jeweils zu den beiden Implikationen p(Pj) ⇒ p(Pi) und p(Pi) ⇒ p(Pj) führen. Dabei müssen wir unterstreichen, dass in beiden Implikationen der linke Term Eigenschaften des zur Formalisierung benutzte Systems Sy ausdrückt und der rechte Term Eigenschaften des zu formalisierenden Gebäudes E.
Das Vorhergehende führt zum folgenden Schluss:
Wenn die Formalisierung von E überhaupt möglich ist, dann zeigen die Implikationen p(Pj) ⇒ p(Pi) und p(Pi) ⇒ p(Pj), dass die Eigenschaften des zur Formalisierung benutzten formalen Systems Sy logisch aus des Eigenschaften des zu formalisierenden Gebäudes E folgen.
Mit diesem Schluss ist unsere Untersuchung keineswegs zu Ende. Allerdings liefert uns besagte Schlussfolgerung das weiter oben erwähnte wesentliche Werkzeug für den rein wissenschaftstheoretischen Vergleich des mathematischen Platonismus und seiner Verneinungen.
3.4 Logik und Ontologie
Die Formalisierung des mathematischen Gebäudes E durch das formale System Sy ist per definitionem Menschenwerk. Wenn nun die Eigenschaften des zur Formalisierung benutzten formalen Systems Sy logisch aus den Eigenschaften des zu formalisierenden Gebäudes E folgen, dann muss in Hinblick auf die rein logischen Beziehungen innerhalb der Formalisierung – aber, de facto, auch zeitlich gesehen – das zu formalisierende Gebäude E dem zur Formalisierung benutzten formalen System Sy vorausgehen. Das allein bedeutet jedoch noch nicht, dass das zu formalisierende Gebäude E nicht ebenfallsMenschenwerk ist bzw. sein kann. Und selbst wenn die Idee, aufgrund eines aus menschlichem Denken entstandenes Systems Sy ein mathematisches Gebäude E zu formalisieren, das selbst auf menschliches Denken zurückgeht, sowohl befremdend als auch irgendwie redundant wirken könnte, beweist das allerdings nichts. Im Gegenteil nehmen wir zum Beispiel an, dass wir ein sich auf intuitionistische bzw. konstruktivistische Mathematik berufendes mathematisches Gebäude E in Hinsicht auf dessen Kompatibilität mit der klassischen Auffassung der Mathematik untersuchen wollen. In diesem Fall ginge es um die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit einer Bijektion E ← Φ → Sy wo E als menschliche Konstruktion gilt, ohne dass sich die Bijektion eine formale Äquivalenz E ← Ψ → Sy reduziert (siehe Abschnitt 2).
Anderseits, selbst wir auch nur die Frage stellen, ob das mathematische Gebäude E, das bei einer Formalisierung mithilfe eines formalen Systems Sy Letzterem logisch vorausgehen muss, deshalb notwendigerweise unabhängig vom menschlichen Denken objektiv existiert, begeben wir uns auf das Gebiet der Ontologie, also der Metaphysik, wobei dieser Artikel doch keinerlei metaphysische Argumentation beinhalten soll.
Wie könnte also unter diesen Bedingungen die Schlussfolgerung von Abschnitt 3.3 die These des platonischen Charakters der mathematischen Gebäude untermauern?
Nun, mit dem nächsten Abschnitt 4 beginnt die Etappe, wo wir die an sich metaphysische Hypothese des mathematischen Platonismus und ihre ebenso metaphysischen Verneinungen in Bezug auf absolut nicht-metaphysische Kriterien wir innere Konsistenz, Konsistenz auf dem Niveau der Konsequenzen, Ökonomie der Sekundarhypothesen usw. vergleichen.
4. Platonismus und Menschenwerkhypothese unter rein wissenschaftstheoretischen Kriterien
4.1 Formale Folgen der Menschenwerkhypothese
Die Schlussfolgerung von Abschnitt 3.3, dass die Eigenschaften des zur Formalisierung benutzten formalen Systems Sy logisch – und nur logisch – aus des Eigenschaften des zu formalisierenden Gebäudes E folgen, hat in der Tat Konsequenzen, infolge der die Aufrechterhaltung der anti-platonischen Hypothese einen sehr hohen Preis an schwer zu vertretenden Voraussetzungen fordert.
Nehmen wir an, dass mathematische Gebäude Menschenwerke sind, zum Beispiel menschliche Konstruktionen auf der Basis der ebenfalls menschlichen „Ur-Intuition des Zählens“, wie Brouwer sagte [9][10], vergl. [11]. Zeigen wir uns jedenfalls offen gegenüber allen Auffassungen, die mathematische Gebäude als Menschenwerke sehen. Jedoch, worin auch immer die Grundlagen dieser Auffassungen bestehen mögen, ergibt sich in allen Fällen das folgende Problem. Die Formalisierbarkeit eines mathematischen Gebäudes E durch ein formales System Sy ist seit Gödel eine zwar nicht ausreichende, jedoch nach wie vor notwendige Bedingung für die Nicht-Widersprüchlichkeit/Konsistenz und Vollständigkeit von E, es sei denn, man amputiert die gesamte Mathematik ihrer wesentlichen Bestandteile (vergl. [12]). Anders ausgedrückt: Wenn, wie es seit Gödel nun einmal der Fall ist, die Bijektion E ← Φ → Sy nur unter der Bedingung halten kann, dass E ein von Φ determiniertes Teil-Gebäude eines breiteren Systems E' ist, während Sy, vereinfacht und selbst reduzierend ausgedrückt, das Gebäude E' nicht in seiner Gesamtheit formalisiert, dann muss die post-Gödelsche Mathematik eben damit auskommen, dass die Existenz von Sy als Bestandteil der Bijektion E ← Φ → Sy dem Gebäude E nur eine bedingte Sicherheit gewährt. Wenn dagegen für ein Gebäude E eine Bijektion E ← Φ → Sy nicht möglich ist, dann ist es aus der Menschenwerkperspektive von vornherein nicht gewährleistet, dass dieses E einen „Anspruch darauf erheben kann“, ein mathematischesGebäude zu sein. Nun ist es schon schwierig, ein formales System Sy zu konstruieren, so dass ein – irgendwie – gegebenes Gebäude E von Sy formalisiert wird. Aber wie sollte man erklären, dass ein von Menschen geschaffenes E ohne Anhaltspunkte so beschaffen sein kann, dass aus seinen Eigenschaften die Eigenschaften eines formalen Systems Syfolgen, wobei Sy auf der Basis von Rm, Rd und Ax die Bedingungen der Nicht-Widersprüchlich und Vollständigkeit erfüllt, während ohne die Möglichkeit des adäquat konfigurierten Sy der Status eines mathematischen Gebäudes von E von vornherein nicht gewährleist wäre? Halten wir vorerst folgenden, aus der Menschenwerkswahl entstehenden Teufelskreis als solchen fest: Einerseits folgen die Eigenschaften eines adäquat konfigurierten formalen Systems Sy logisch aus den Eigenschaften des entsprechenden mathematischen Gebäudes E, und anderseits setzt der Status von E eines mathematischen Gebäudes die Möglichkeit eines adäquat konfigurierten formalen Systems Sy voraus.
Wir werden später sehen, dass die Aufgabe der Menschenwerkswahl es ermöglicht, aus diesem Teufelskreis herauszukommen.
Die nächste Etappe unsere Arbeit besteht jedoch darin, die Folgen des besagten Teufelskreises festzustellen, Folgen, die der Idee mathematischer Gebäude als Menschenwerke in der Tat noch bedeutend komplexere Fragestellungen gegenüberstellen.
Wie oben gesagt, ist ein mathematisches Gebäude E mit einer Mächtigkeit der Arithmetik oder darüber notwendigerweise in ein breiteres mathematisches Gebäude E' eingebettet. Genauer ausgedrückt, wissen wir seit Gödel, dass die Formalisierung von E das entsprechende formale System Sy zwar voraussetzt, aber auch, dass Sy allein für die vollständige Formalisierung von E nicht hinreicht. Die vollständige Formalisierung von Eerfordert ein breiteres formales System Sy', Sy ⸦ Sy'. Da aber nun die Eigenschaften von Sy' aus den Eigenschaften einer Erweiterung von E auf E' folgen, ist die notwendige Einbettung von E in E' erwiesen. Hiermit ist die Sache jedoch nicht zu Ende. Sy' allein reicht ja wiederum nicht aus, um E' zu formalisieren. Die vollständige Formalisierung von E' erfordert auch wieder ein breiteres formales System Sy'', Sy' ⸦ Sy'', woraus Einbettung von E' in E'' folgt, und so weiter ad infinitum.
Unter diesen Bedingungen stellen sich der Idee mathematischer Gebäude als Menschenwerk größere und größte Schwierigkeiten entgegen. Beginnen wir der relativ Einfachsten. Per definitionem beinhaltet das formale System Sy keineswegs intrinsisch seine Erweiterung auf Sy'. Auf welche Weise könnte man jetzt im Bezug auf Sy' erklären, wie menschliches Denken, während es bewusst Sy als – nicht vollständige – Formalisierung von E konfiguriert, gleichzeitig auch die Erweiterung von Sy auf Sy'bewerkstelligt, ohne aber in der Lage zu sein, E' als „Menschenwerk“ zu schaffen, bevordie Erweiterung von Sy auf Sy' das menschliche Denken davon unterrichtet, wie E' beschaffen sein muss, damit sein Status eines mathematischen Gebäudes überhaupt gewährleistet ist? Da, wie oben gesagt, eine Erweiterung von Sy auf Sy' eine keineswegs selbstverständliche Erweiterbarkeit von Sy auf Sy' voraussetzt, wird schon hier vom menschlichen Denken Außerordentliches verlangt, vieles, was sicherlich über die Grenzen der Fähigkeiten des menschlichen Denkens hinausgeht. Doch es kommt noch schlimmer. Sobald wir (i) darauf eingehen, dass ein mathematisches Gebäude E nur dann gesichert ist, wenn das zur Formalisierung von E benutzte Sy auf Sy' erweitert wird, Sy ⸦ Sy', Sy' auf Sy'', Sy' ⸦ Sy'', Sy'' auf Sy''', Sy'' ⸦ Sy''', … … und so weiter bis ins Unendliche im strengen Sinne – was unendlich viele Rm', Rd', Ax'; Rm'', Rd'', Ax''; Rm''', Rd''', Ax'''; … … und deren Koordination voraussetzten würde – und (ii) dennoch auf der Hypothese mathematischer Gebäude als Menschenwerke beharren, dann müssen wir uns doch fragen, ob menschliches Denken überhaupt in der Lage ist, unendlich viele Operationen zu bewerkstelligen. Selbst wenn wir uns auf haarsträubende Hypothesen einlassen wie die Existenz von einerseits menschlichen, doch anderseits irgendwie transzendenten Supergehirnen, oder von irgendwelchen transhuman devices, die fähig wären, unendlich viele Sy, Sy', Sy'', Sy'', Sy''' … … mit ihren jeweiligen Rm', Rd', Ax'; Rm'', Rd'', Ax''; Rm''', Rd''', Ax'''; … … zu koordinieren, dann bliebe trotzdem folgendes Problem zu beachten: Auch unter der erneut schwer ernstzunehmenden Hypothese, dass die jeweiligen Erweiterungen von Sy auf Sy', Sy' auf Sy'', Sy'' auf Sy''' usw. bis ins Unendliche in einer zum unendlich Kleinen hin tendierenden, aber doch von 0 verschiedenen Zeitspanne bewältigt werden könnten, dann würde die Sicherung eines jeglichen mathematischen Gebäudes E mit der Mächtigkeit der Arithmetik oder darüber dennoch eine unendlich lange Zeitspanne erfordern. Dies ist wäre nicht mit der endlichen Dauer unseres Universums zu vereinbaren.
Kurz gesagt, um zu halten, benötigt die Hypothese, dass mathematische Gebäude EMenschenwerke sind, sowohl de facto als auch prinzipiell unhaltbare Sekundarhypothesen.
4.2 Die vorläufige wenn-dann-Antwort der platonischen Auffassung
Nehmen wir jetzt an, dass die mathematischen Gebäude E eine immaterielle, aber unabhängig vom menschlichen Denken objektiv existierende, ewige und unveränderliche Welt bilden. Um jegliches Missverständnis zu vermeiden, wiederholen wir, dass diese Hypothese des mathematischen Platonismus – genau wie ihre bisher behandelte Verneinung – eine metaphysische Hypothese ist, die an sich weder bewiesen noch widerlegt werden kann. Wenn (!) aber die Hypothese des mathematischen Platonismus wahr ist – der wenn–dann–Status dieser Behauptung sei unterstrichen – dann (!) wären (i) das Problem des Teufelskreises in der Menschenwerkshypothese und (ii) die aus diesem Teufelskreis folgenden, hier oben angeführten Probleme auf der Stelle gelöst. Nach wie vor gälte, dass die Eigenschaften des zur Formalisierung benutzten formalen Systems Sylogisch aus des Eigenschaften des zu formalisierenden Gebäudes E folgen. Allerdings wäre aus platonischer Sicht kein Teufelskreis vorhanden: Wenn (!) E objektiv existiert, unabhängig vom menschlichen Denken gegeben ist, dann ist ja Status eines mathematischen Gebäudes von E ja ipso facto unabhängig von der – an sich weiter bestehenden – Möglichkeit des entsprechenden formalen Systems Sy gewährleistet. Vereinfacht ausgedrückt, erscheint aus platonischer Sicht er die Möglichkeit des entsprechenden formalen Systems Sy als Folge des Status eines mathematischen Gebäudes von E. Damit fällt die leidige Frage weg, wie man die Eigenschaften des formalen Systems Sy von den Eigenschaften des mathematischen Gebäudes E ableiten könnte, wenn – wie das aus der Menschenwerksperpektive der Fall ist – der Status eines mathematischen Gebäudes von E von der Möglichkeit des entsprechenden formalen Systems Sy abhängt.
Zwar gilt auch aus platonischer Sicht nach wie vor, dass das zur Formalisierung von Ebenutzte Sy allein keine vollständige Formalisierung von E bewerkstelligen kann, wodurch weiterhin die Notwendigkeit einer Erweiterung von Sy auf Sy' besteht, Sy ⸦ Sy', und so weiter bis ins Unendliche. Anderseits geht es aus platonischer Sicht bei der Erweiterung von Sy auf Sy', Sy ⸦ Sy', nd so weiter bis ins Unendliche, nicht um die Sicherung des Gebäudes E als solchem, sondern um die Sicherung der Erkenntnis, die wir in Bezug auf Eanstreben. Selbstverständlich gilt auch aus platonischer Sicht, dass die Einbettung von Sy in Sy' notwendigerweise die Einbettung von E in E ' entspricht, und umgekehrt, was wiederum die Erweiterung von Sy' auf Sy'', Sy' ⸦ Sy'', erfordert usw., und das bis ins Unendliche stricto sensu. Jedoch stellt Letzteres aus platonischer Sicht dem menschlichen Denken keine ins Unendliche gehende Anforderungen, deren Ausführung unendlich lange Zeitspannen erfordern würden. Solange das menschliche Denken nicht ein für alle Mal Anspruch auf eine perfekte Erkenntnis der gesamten Mathematik erhebt, bildet jeder Term der unendlichen Reihe Sy, Sy', Sy'', Sy'', Sy''', … … eine Etappe der fortschreitendenErkenntnis, auch wenn, wie vermutlich bei jeder Form vertiefter, z.B. naturwissenschaftlicher Erkenntnis, das endgültige Ziel nie erreicht wird. Jedenfalls stellen unendliche Reihen Sy, Sy', Sy'', Sy'', Sy''' … … aus platonischer Sicht keine Bedrohung für die Existenz von E als mathematisches Gebäude dar, während aus der Sicht der Menschenwerkshypothese, die – auf Vollständigkeit und Konsistenz beruhende – Existenz aller mathematischen Gebäude E mit einer Mächtigkeit der Arithmetik oder darüber, unendlich weit gehende Fähigkeiten des menschlichen Denkens voraussetzt.
4.3 Der endgültige nicht-metaphysische Vergleich
Nun, sollte (!) die Hypothese des mathematischen Platonismus wahr sein, dann (!) wären alle aus der Menschenwerkshypothese entstehenden, unüberwindbaren Probleme vermieden. Allerdings scheint die Hypothese des mathematischen Platonismus auf „noch mehr unüberwindbare“ Schwierigkeiten zu stoßen, wenn es erlaubt ist, sich so auszudrücken. Spontan könnten wir vielleicht in der Idee einer absolut immateriellen und doch objektiv existierenden Welt das Paradebeispiel schlechthin einer Unmöglichkeit erblicken (vergl. [13]) Wir haben in der Tat die Gewohnheit, das „Existierende“ auf das Handgreifliche, Materielle zu beschränken; alles nicht-Materielle wäre „Vorstellung“, oder „Einbildung“ und so weiter. Allerdings beweist eine Gewohnheit nichts. Genau wie die Behauptung, dass die platonische Welt objektiv existiert, ist die Beschränkung des Existierenden auf das Materielle eine metaphysische Option. Und wenn auch die objektive Existenz der platonischen Welt „unvorstellbar“ erscheint, so finden wir – jenseits unserer „Gewohnheiten“ – dieselbe „Unvorstellbarkeit“ auch bei der Existenz der materiellen Welt wieder. Schon Leibniz [14] stellte sich die Frage „Warum gibt es etwas und nicht vielmehr nichts?“ Aus der Frage selbst geht hervor, dass die Existenz der Welt keineswegs selbstverständlich ist, und eine Reaktion von der Sorte „Die materielle Welt existiert, weil wir sie schließlich wahrnehmen.“ ist ja keine Antwort auf die Frage, wie Leibniz sie formuliert. Es fehlt hier an Platz, auf Leibnizens Argumentation näher einzugehen; erwähnen wir nur, dass für den Autor die Existenz der Welt unvorstellbarunwahrscheinlich ist. Auch wenn die Ausdrücke „Existenz der Welt“ und „Eigenschaften der Welt“ nicht das Gleiche meinen, so kann man doch nicht ableugnen, dass unvorstellbar unwahrscheinliche, anderseits aber wesentliche Eigenschaften der Welt die Unwahrscheinlichkeit Existenz der Welt erhöhen. Erinnern wir uns bei dieser Gelegenheit an den Titel eines Artikels von Eugene Wigner – The Unreasonable Effectiveness of Mathematics in the Natural Sciences [15] – und an ein sehr bekanntes Zitat Einsteins, das die Verständlichkeit unserer Welt als unbegreiflich bezeichnet [16]. Solange wir aber trotzdem nicht – ein bisschen wie eine gängige Karikatur der Philosophie – „die Existenz der materiellen Welt abstreiten“, besteht kein Grund dafür, die Existenz der mathematisch-platonischen Welt wegen ihrer Unvorstellbarkeit a priori auszuschließen, auch wenn infolge des immateriellen Charakters der mathematisch-platonischen Welt deren Gegebenheiten uns nicht über unsere sensorielle Wahrnehmung zugänglich sind. Gerade laut Gödel [17] bildet die Behauptung, dass eine immaterielle mathematische Welt eben deshalb nicht objektiv existieren kann, weil sie uns nicht über unsere sensorielle Wahrnehmung zugänglich ist, eine ausgesprochene Fehlargumentation. In der Tat müssenwir geradezu erwarten, dass die Zugänglichkeit zweier so wesentlich verschiedene Entitäten wie die materielle und die mathematisch-platonische Welt auf ebenfalls wesentlich verschiedenen kognitiven Faktoren beruht.
Nun kann die rein wissenschaftstheoretische Feststellung, dass die Annahme der wissenschaftlichen Erfassung des materiellen Universums ebenso auf metaphysischen Voraussetzungen beruht wie die Annahme des mathematischen Platonismus, keineswegs als ein metaphysisches Argument bezeichnet werden. Auf dieser Basis ist jetzt der Moment gekommen, die metaphysische Hypothese des mathematischen Platonismus mit seiner ebenso metaphysischen Gegenhypothese – Mathematik als Menschenwerk – nach rein wissenschaftstheoretischen Kriterien, also ohne Metaphysik, zu vergleichen. Möge jeder unter uns zwischen den folgenden Optionen seine persönliche Wahl treffen.
Entweder akzeptieren wir den an sich sowohl unwiderlegbaren als auch unbeweisbaren mathematischen Platonismus, der aber (i)
keine andersartigen ontologischen Hypothesen erfordert als jene, den auch die Hypothese der Existenz einer materiellen Welt voraussetzen muss, und (ii) weder intern noch bei seinen
Konsequenzen zu Widersprüchen führt,
oder wir beharren auf der ebenfalls sowohl unwiderlegbaren als auch unbeweisbaren Menschenwerkshypothese, deren Formulierung aber schwere Widersprüche und auch sonst unüberwindbare Schwierigkeiten wie, unter anderem, Unmöglichkeiten mit sich bringt.
Referenzen
[1] Gödel K. 1931. Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme I. Monatshefte für Mathematik und Physik 38, 173–198. DOI: https://doi.org/10.1007/BF01700692.
[2] Gödel K. 1951/1995. Some basic theorems on the foundations of mathematics and their implications. S. 304–324 in: Feferman S. & Dawson J.W.Jr., Goldfarb W., Parsons C. & Solovay R. (Hrsg.). Collected Works – Volume III – Unpublished Essays and Lectures.Oxford University Press.
[3] Zach R. 2005/2007. Hilbert's Program Then and Now. Philosophy of Logic 2007, 411–447. DOI: https://doi.org/10.1016/B978-044451541-4/50014-2; arXiv:math/0508572.
[4] Hilbert D. 1902/1968. Grundlagen der Geometrie. Teubner Studienbücher Mathematik. Vieweg+Teubner Verlag, Wiesbaden, vii+273 S. DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-92726-2.
[5] Hilbert D. 1927/1996. The Foundations of Mathematics. In: Sarkar S. (Hrsg.). The Emergence of Logical Empiricism. Garland Publishing Inc., New York, 1996.
[6] Snapper E. 1979. The Three Crises in Mathematics: Logicism, Intuitionism and Formalism, Mathematics Magazine 52(4), 207–216. DOI: https://doi.org/10.1080/0025570X.1979.11976784.
[7] Mazur B. 2008. Mathematical Platonism and its Opposites. European Mathematical Society Newsletter 68, 19–21. PDF: https://people.math.harvard.edu/~mazur/papers/plato4.pdf.
[8] Carnap R. 1947. Meaning and Necessity: A Study in Semantics and Modal Logic. The University of Chicago Press, Chicago (IL), 258 S.
[9] Brouwer L.E.J. 1913/1914. Intuitionism and Formalism. Bulletin of the American Mathematical Society 20, 81–96. PDF: https://www.ams.org/journals/bull/2000-37-01/S0273-0979-99-00802-2/S0273-0979-99-00802-2.pdf.
[10] Meschkowski H. 1990. Denkweisen großer Mathematiker: Ein Weg zur Geschichte der Mathematik. Vieweg, Braunschweig, x+286 S. DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-85073-7.
[11] Brouwer L.E.J. 1919. Intuitionistische Mengenlehre. Jahresbericht der deutschen Mathematikervereinigung 28, 203–208. https://eudml.org/doc/145576.
[12] Hilbert D. 1928. Die Grundlagen der Mathematik. Hamburger mathematische Einzelschriften 5, 28 S.
[13 Linnebo Ø. 2006. Epistemological Challenges to Mathematical Platonism. Philosophical Studies 129(3), 545–574. JSTOR: https://www.jstor.org/stable/4321774.
[14] Leibniz G.W. 1714/1996. Principes de la Nature et de la Grâce – Monadologie et autres textes. Ed. Flammarion, Paris, 322 S.
[15] Wigner E.P. 1960. The Unreasonable Effectiveness of Mathematics in the Natural Sciences. Communications in Pure and Applied Mathematics 13(1), 1–14. DOI: https://doi.org/10.1002/cpa.3160130102.
[16] Einstein A. 1934/2021. Mein Weltbild. Europa Verlag, Berlin, 2021, 232 S.
[17] Gödel K. 1964/1990. What Is Cantor's Continuum Problem? In: Feferman S. et al. (Hrsg.). Kurt Gödel – Collected Works – Volume II. Oxford University Press, New York, 1990, 432 S.
Zentrum für BioKomplexität & NaturTeleologie
Am Spitz 2
A-3903 Echsenbach
Österreich
Fon: +43 680 3318683
E-Mail: vorstand@biocomplexity.at
Wir werden gesponsert durch
Eine enge Zusammenarbeit besteht zudem mit einigen europäischen Partnerorganisationen (BioCosmos Skandinavien, En Arche Polen, CIID Italien, C4ID UK).
Diese Seite teilen mit ...